Kaddisch für die namenlosen Toten unseres Hauses, unseres Viertels.

 

Wir haben beschlossen, einen Jahrzeit-Tag festzulegen. Wir könnten aus diesen Tagen den 15. August 1942 herausgreifen, als Max Kaufstein, einer der elf Repräsentanten des Synagogenvereins Beth Zion zusammen mit seiner Frau Rachel nach Riga abtransportiert wurde. Der Verein betrieb die private Synagoge, deren Gebäude noch heute im Hinterhof des Hauses Brunnenstraße 33 zu sehen ist. Die Mitglieder des Vorstandes und die Repräsentanten des Vereins wohnten laut Jüdischem Adressbuch von 1929/30 fast alle in der Brunnenstraße und Umgebung (Elsässer, Veteranen-, Anklamer und Bernauer Straße).

Für uns verbindet sich in diesem Sagen auf die Mieterinnen und Mieter unseres Haus auch die Verkündigung der Erlösungshoffnung. Das Haus in harter und glatter Fügung ist uns gegeben, wir nehmen es an und wir wollen es umfassend sanieren – wir stellen es so dar, nicht wie es sich uns unmittelbar gibt, sondern als Inbegriff möglicher „Reaktionen“, möglicher Zusammenhänge. Es gewinnt ein neues Gepräge, wenn man will einen Charakter. Hier gewinnen wir erst die Sprache für einen Übergang vom bloßen Stoff zur geistigen Form. Was gewinnen wir dabei, und worin liegt der mögliche Verlust. Das Wort besitzt seine Dynamik, Vorstellungen und Gedanken zu entfalten, wiewohl es physisch bloß ein Hauch ist: Das Wort entdeckt, bahnt neue Wege ins Unbekannte, Nicht-Gegebene. Verknüpfungen werden hergestellt, die sich dem sinnlich affizierten Auge nicht unmittelbar aufdrängen – es sind die mit der gegebenen Sache verknüpften Bilder, die ihre Macht ausüben. Lassen wir uns dagegen vor einem unverfänglichen Blick z. B. auf den hinter dem Haus liegenden Friedhof auf eine Besprechung, auf ein Sprechen vor den frühlingshaft geschmückten Gräbern ein, beginnen sich topographische Linien zu bilden, an denen entlang wir eine Art imaginäres Schnittmuster begehbar machen, auf dem wir anderen begegnen, auf dem Weg zum Haus, mit ihren Wünschen, ihren Begehrungen. Unterschiedlich geformte Linien aus unterschiedlichen Zeiten, älteste niemals ganz von den sie überlagernden jüngeren zum Verschwinden gebracht. Linien verschiedener Herkunft, bosnische und armenische. Die der geflüchteten Großmutter verlaufen quer durch Europa hier über unseren Hof, den die beiden alten russischen Juden nie mehr durchqueren: Ihre Gestalten sind für uns noch sichtbar, im kurzen gebückten Einhalten während der knappen Erkundigungen über den Sohn, der sich immer weniger blicken ließ, nur mehr von unterwegs übers Funktelefon kurz Lebenszeichen durchgab.