Offener Brief an die Eigentümer des Hauses Anklamer Straße 54,

nun gut, Sie haben also eine Linie wissend und wollend überschritten, und eine moralische nicht nur: Gespräch über die gemeinsamen Bedürfnisse, die sich nicht reduzieren lassen auf den bürgerlichen Begriff des Interesses. Dazu werde ich, gleichsam noch von der anderen Seite der Linie aus, sprechen, öffentlich, d.i. zu Ihnen, den Eigentümern, und zu den Mieterinnen des Hauses sowie allen näher und ferner Stehenden, nicht zu Betroffenen. Ich will gleich erläutern, warum das "Betroffenen-Konzept" sowohl ein überlebtes bürgerliches wie auch ein spaltendes ist, es letztlich sich einem "brutalen" Selektionssystem andient. Zuerst jedoch eine Formalie, und auch dies Ihnen gegenüber keine Kleinlichkeit, wie ich erfahren habe. Sie sprechen in Ihrem Brief, den ich allen Kopien dieses Briefes als Kopie beilegen werde, zu Frau Hildebrandt und mir, obwohl es ein Telefongespräch zwischen mir und ausschließlich zwischen mir und Herrn J. Jacob gab [mit einem Zufall, einem Geschehen, das nur ohne reine Begrifflichkeit (-- Ihre Unterschrift übrigens zwei Totenkreuze -- erinnern Sie sich an den Weg des Samurai? - Wohl kaum, aber dennoch. Ein starkes Bild, - ein Symbol, diese Unterschrift? Oder stehen diese Zeichen "für die Eigentümer"?) nicht übermächtig wird, der Anwesenheit aller Mieterinnen, außer Frau Lukschanderl.)]. Ich schreibe und unterzeichne diesen Brief.

Kleiner Exkurs: Vom Betroffenen zum Handelnden.

Der, die Betroffene.- Jemand, der von einer Sache betroffen, in Mitleidenschaft gezogen ist; von betreffen: 1. Jemanden angehen; 2. Treffen; widerfahren; zustoßen; 3. In bestimmter Weise seelisch treffen, bestürzt machen; 4. Antreffen, ertappen (16. Jhdt.).

Das Betroffen-Sein vermittelt am besten noch die Herkunft dieser Gefühlsregung. Wir werden von einer außer uns liegenden Macht, Sache, Angelegenheit schicksalhaft getroffen, ja niederstreckt: Wir sind außer Stande, dem Einhalt zu geben, wir sind getroffen und melden Betroffenheit, und zwar unwillkürlich, den Körper einziehend, sich duckend im Jammer. Die reale Position, Situation der "Betroffenenvertretung" gibt auch von diesem Zusammenhang bestens Auskunft. Wir Betroffenen reagieren auf Entscheidungen, Fakten, denen wir uns schon durch unsere Selbstverständigung als Betroffene unterworfen haben, und als Unterworfene, Unterlegene bleibt uns, Betroffenheit auszudrücken, ähnlich den öffentlichen Betroffenheits-Verlautbarungen bsplw. nach einem Zugunglück. Anders sich zu verhalten, Eigenes zu fordern, reicht bereits, aus Betroffenen Außenseiter durch Zuweisung von Inkompetenz zu machen. Die kleinste Abweichung von der zugewiesenen Rolle wird mit Ausschluß aus geregelten Verfahren, aus der normierten Begrifflichkeit sanktioniert: Wenn es Ihnen nicht paßt, dann haben Sie die Freiheit zu gehen.

Wir sehen, daß es sich hier um Vorgänge handelt, die nicht eindeutig rational zu erfassen sind. Der Begriff Betroffener, der sich speist sowohl aus dem juristischen Umkreis des mit einer Angelegenheit aktiv oder passiv Verbundenen als auch aus dem emotionalen Rührungsgebiete, wird gerade dort angewendet, wo es sich nicht gehört, klar und eindeutig zu sprechen, dort, wo es um Verfügungsgewalt geht, die eindeutig denen zugehört, die Produktionsmittel wie z.B. Grund und Boden besitzen, Verfügungsgewalt, die sich über das Eigentum auf die mit diesem Boden verbundenen Menschen ausdehnt, sei es, daß sie dort ihre Arbeitskraft verausgaben oder darauf wohnen. Er besitzt eine negative Qualität, die in unserer Sprache dort Tradition besitzt, wo es um die Verschleierung und Vernebelung tatsächlicher Verhältnisse geht. Es handelt sich um Freisetzungen wie Umsetzungen, es handelt sich um Sozialpartner und Betroffene, und sie alle unterliegen schicksalhaften Sachzwängen wie der Globalisierung: Dies ist eine nur begrenzte Auswahl von Begriffen, die eher einer Sklavensprache zu entstammen scheinen als dem Wortschatz aufgeklärter Menschen. Würden wir uns selbst gegenüber Klartext reden, wären wir auch entkleidet der scheinbaren Sicherheit: Ständen wir zwar bloß und nackt da, so käme es uns doch auch in den Sinn, daß es Bündnisse scheinbar Versprengter und Verlassener waren und sind, die gemeinsam und geschlossen sehr wohl Widerstand leisten können, aber eben nur wenn sie ihre gemeinsame gesellschaftliche, ökonomisch definierte Position begreifen, die weniger sich aus der eigenen Befindlichkeit ergibt als aus der realen Situation Abhängiger. Betroffener sein bedeutet bereits, dem herrschenden Aussonderungsverfahren sich auszuliefern.

Solange wir also nur betroffen bleiben, ohne die Verhältnisse daraufhin zu befragen, wem sie nützen, unterliegen wir ihnen, denen wir einen gleichsam naturgemäßen Charakter zubilligen und verhalten uns nicht aufgeklärter als archaische Völker.

Ich spreche zu allen Eigentümern, die sich willentlich hinter Herrn Jassen verbergen, - gerade dies, das Verbergen, wollte ich für mich, indem ich versuchte, mehr als formal zu sprechen, von Anfang an vermeiden: Starrheit, Maske, Beharren, Nicht-Denken. Was Sie für eine persönliche Herausforderung, einen Wettkampf wie die damalige Auktion (eine ebenso willentliche Mißachtung der Bedürfnisse der Mieterinnen) benutzen, fechten Sie für sich und gemeinsam mit den anderen Eigentümern aus, und letztlich vor anderen Instanzen, - das wird und soll nicht mein Thema sein. Ich kann hier von dieser Linie aus, - dies war mein Platz, von dem ich auch gemeinsam mit den anderen Mieterinnen in "Anklamer 54.Zukunftswerkstatt für Stadtgestaltung. Anregungen für Mieter und Vermieter. Diskussionspapier für behutsame Stadtentwicklung am Beispiel des Hauses Anklamer Straße 54" gesprochen habe, - erneut darüber nachdenken, in welcher Situation wir uns, und ich meine uns alle, die wir diese Stadt bewohnen, in der wir arbeiten und leben, die wir jeder für sich planen, gestalten, verändern etc., befinden. Ich will versuchen, Begriffe, mit denen wir hantieren, als ob sie eine immer und überall geltende Bedeutung mit sich tragen, zu befragen. Darunter befinden sich scheinbar alte, uralte, äonenalte Begriffe wie Eigentum und Fortpflanzung, aber auch Stadt, neue wie Wettbewerb oder Sanierungsgebiet, aber auch Performance. Ich spreche hier, anders als in dem Diskussionspapier ohne alle Rücksicht auf die Leser. Es ist kein Text, der Rücksicht nehmen will.

Die Frage, was unter Eigentum zu verstehen sei, scheint durch definitorisch streng geregelte Verfahren in dieser bürgerlich verfaßten Gesellschaft eindeutig beantwortet, ja für jedermann scheint zu gelten, seine Form, seine Art und Weise allein zu befragen, müsse geahndet werden. Viele - davon war schon im frühen 19. Jahrhundert nicht nur in der wirtschaftwissenschaftlichen Auseinandersetzung die Rede - bestimmen unausgesprochen ein unwandelbares Wesen des Eigentums, welches durch die weltpolitischen Veränderungen der letzten Jahre und durch den daraufhin neu zu verteilenden Reichtum an Boden im Osten neue alte Urständ feierte. Nimmt man den sogenannten Aktienboom und die Entsozialisierung der Alterversorgung hinzu, ergibt sich ein Menschenbild, das als Leitbild selbst ernannten Gewinnern als Charakterstock dient. Hier kommen wir zum körperlichen Akt gesellschaftlicher Auseinandersetzung: Die Verdachtsmomente, einer käme mit der Begrifflichkeit seiner Selbstbeschreibung, seines Handelns und Tuns, nicht zurecht, erwachsen aus körperlichen Gegenbewegungen: Dort einzuhaken, wo einer grimassiert, wo all das Unerfüllte nur durch den Körper noch sich und besonders für den Beobachter bemerkbar macht.

Auf beiden Seiten herrscht eine vorbehaltlose Unterwerfung unter die willkürlichen Maximen der Gewinner, bitter besonders bei all jenen, die durch ihre eigene Sprache unkenntlich gemacht, jedes nur herauf dämmernde unerledigte Verdrängte mit Losungen bannen. Sie erscheinen wie Exekutionskommandos und vertreten doch nicht weniger als das Uralte im neuesten Gewande und unterwerfen also auch sich selbst, um sich nur wieder vor Enteignung abzusichern, schon längst einem Subjektmodell entraten, dem sie körperlich alles geopfert haben, in Worten ohnmächtige Hülsen absondernd: Planer, niemals planlos.

Sie sind die Chanteurs eines Sanges, klingend zog ihr Zug durch keine Städtchen mehr, abstinenzlose Enthaltsame. Die Gesundung, in deren Namen Neuheit, die kaum ins Kalkül gezogen wird, wie das Alte, das am Haus sinnfällig geworden ist, das bei jedem Haus hier, eines nach dem anderen als Beweis antritt, ist ein Altes, das als bürgerliche Besitzurkunde vollzieht, was nicht nach Recht und Gesetz, was als Immobilie nicht verschwinden konnte und was als Unverdauliches nicht konsumiert werden konnte, vollziehen also, was z. B. bei der sogenannten "M-Aktion" (Vgl. Betrifft: "Aktion 3". Deutsche verwerten jüdische Nachbarn. Dokumente zur Arisierung ausgewählt und kommentiert von Wolfgang Dreßen, Berlin, Aufbau-Verlag, 1998, S. 45 ff.) bei Versteigerungen im August 1944 nicht in deutschen Privatbesitz überging und bis heute verblieb. Seit Innbesitznahme keine Versammlung, die an die ehemaligen Besitzer und Bewohner dieses Hauses erinnern wollte, kein Zeichen, was allen Beteiligten bewußt machen sollte, wo man hier lebt und profitiert und vor allem von wem. Sanierung, von sanare, gesund machen, heilen; wieder gutmachen; (wieder) zur Vernunft bringen, wird zum sozialhygienischen Begriff, der aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende aus einem reformistischen Konzept der sozialen Beruhigung herstammt, bevor aus den proletarischen Mietskasernen sich revolutionäre Bewegungen rekrutierten, durch tolerierendes Blendwerk freiwillige Unterwerfung zu formen. Diese historische Etymologie verhilft auch zu inhaltlicher Aktualisierung. Wenn es tatsächlich darum ginge zu sanieren, also wieder gutzumachen, zu heilen und zur Vernunft zu bringen, gäbe es nur den von den Mieterinnen vorgeschlagenen Weg: Gemeinsam darüber zu reden, welche historischen, gesellschaftlichen, einer menschlichen Zukunft gegenüber verantwortlichen, also welch einer historisch-sozialen Vernunft, die immer nur eine kritische sein kann, man sich verpflichtet.

Doch wir beteiligen uns an strengen Selektionsmaßnahmen umfassenden Ausmaßes, wenn wir historischen Erscheinungen, wie mit Land und Menschen umgegangen wird, eine unhinterfragbare Faktizität verleihen, als ob sie von einer absoluten transzendenten Macht herrührte, beglaubigt und verewigt wäre. Daneben kennen wir die guten Botschaften heute aus dem Fernsehen besser als aus Kirche oder Vaterlandsverein: Entlassungen bsplw. sind bedauerlich, aber sie genau gehören zu den guten Nachrichten für die Anleger. Eben solche guten Nachrichten gibt es für Bodenanleger. Der Konflikt um dieses Haus zeigt in exemplarischer Weise die Aussonderung jeder menschlichen Fragestellung. (Vgl. "Anklamer 54. Zukunftswerkstatt für Stadtgestaltung. Anregungen für Mieter und Vermieter. Diskussionspapier für behutsame Stadtentwicklung am Beispiel des Hauses Anklamer Straße 54".) Das auf privatem Grund stehende Gebäude, - monströs wirken sie eben nicht nur dort, wo sie gleichsam aus der historischen Brache heraus höchste Repräsentanz für den fortdauernden Vollzug der Verdrängung gewinnen. Hier, wo die Entmenschlichung der Auseinandersetzung in dem Moment einsetzte, als ein bürgerlicher Besitztitel dem Boden eine menschliche Nutzung entzog. Wo die Entseelung so weit fortgeschritten ist, gewinnt die Fetischisierung überhand, die Ware Haus mit dem Stempel bürgerlichen Privateigentums eine mythische Kraft, die an Zeiten von Urbarmachung und Zivilisierung appelliert. Es ist die blanke Entwertung menschlichen Lebensraumes durch den Siegerfetisch. Nichts anderem verdanken die Macher am Potsdamer Platz ihren Erfolg: In einer enthistorisierten Gesellschaft herrschen Krisenmanager. Als erstes pflanzen sie LiveCams auf, die neuesten Fetische der Wirklichkeitsverklärung. Sie sind herrlich befangen in ihren Repräsentationsphantasmen, denen sie sich leiblich ganz eingepaßt, angepaßt haben für die kleine Sicherheit. Sie können sich immer sehen, wie sie planen und bauen, schaffende Körper. Die für ihre Natursteinplatten tausende Löcher bohren, Gehrungen schneiden, Ausschuß produzieren, Tonnen an die Decken (!) wuchten, gehören den verschwindenden Leibern, die heute nicht anders als in antiken Fresken sichtbar werden, die in den glatten Steinfassaden verschwinden, in den nicht der Witterung preisgegebenen, immer schön geputzten, in denen sie sich spiegeln. Würden wir sie an den Tisch in unseren Hof bitten, hier und jetzt säßen Namenlose uns gegenüber, und würden wir sie anreden., hätten auch wir nur die gleichen ganz neuen, ganz frischen Worte, denen sie uns wieder entglitten, wenn wir die Sanierung des Hauses planten. Wo über Zukunft, hier: der Stadt, gesprochen wird, geht es vor allem um Themen, die sich ergreifen lassen müssen im Jetzt, wenn wir uns denen zuwenden, die auf dem Weg zum jetzigen Zustand vergessen wurden, unseren Vorfahren, auf deren Schultern und mit deren Leibern die Städte errichtet wurden, und deren Mühen und Anstrengungen sich in der Stadt, den Häusern und Wohnungen, selbst den Wohnungen nicht aufweisen lassen. Wachstum, Vernichtung, Auf- und Umbau der Städte geschahen im Namen und nach Leitlinien einer planenden Vernunft, die durchgängig ihr zweckorientiertes Kategoriengerüst den Zielen der Kapitalverwertung und -sicherung entlehnten.

Identität und Kontinuität ihrer Planungen scheinen in einem gleichsam "mythischen" Raum angesiedelt. Wer waren die ursprünglichen Geber; wer sind die Geber heute gewesen?

In dieser unseren Welt kreisen tatsächlich unbewegliche Dinge, das Unbeweglichste (und zugleich Beweglichste) die Erde, der Boden. Und diese unbeweglichen Dinge, um die herum die beweglichen ausgetauscht werden ohne Unterlaß, scheinen ähnlich wie in Ozeanien heilige Dinge, zurückgelassen, gegeben einst von mythischen Figuren, denn diese Dinge werden zwar einerseits benutzt, aber andererseits meist nicht von denen, die sie zeitweilig in Besitz nehmen, sie bleiben an Ort und Stelle, die Böden können nicht bewegt werden, es sind Besitztitel, die bewegt werden, die in ihrer Berechtigung an eine durch Erweis und Bekräftigung von Vasallentreue erfolgte Abtretung erinnern.

Das Geheimnisvolle an diesen Dingen ist ihr Nutzen. Er scheint ein doppelter und zwar dergestalt, daß er meist auf unterschiedliche Personen verteilt ist, die einen sind sichtbar und haben ihr Recht, wenn man sie fragt, daher, daß sie sich und die Ihren schützen müssen, die anderen haben einen anderen Nutzen daran, der es ihnen möglich macht, weitere Dinge zu erwerben, deren Gegenwert sich allein aus der Nützlichkeit des von den anderen benutzten Dinges ergibt.

Die Sanierung eines Hauses ist eine soziale Maßnahme; sie unterliegt einer historisch-dialektischen Bewegung. Kann man fragen, ob das Prinzip der "Verfremdung", als dialektisches entlehnt dem dialektischen Theater Brechts, auch für die Sanierung eines Hauses angewendet werden muß? Was kann es in diesem Zusammenhang bedeuten?

Heißt aus der leeren Widerspiegelung herauskommen, in das kulturelle und politische Leben eingreifen, auch historische (Wieder-) Aneignung. Ich spreche hier von einem Funktionswechsel eines Hauses als gesellschaftlicher Einrichtung, als Instrument der Aufklärung, der Bewußtseinsbildung. Jede Form "ökologischen" Bauens muß diesen Aspekt eines Hauses in den Vordergrund der Planungen berufen, wenn "ökologischer" Umbau mehr sein soll als die Erhöhung des Verwertungsniveaus. Diese Art von "ökologischer" Planung erfordert die Miteinbeziehung einer Dialektik von Eigentum und Nutzung, zwei Seiten der Nutzung gegebenen Bodens. Man muß so wohnen, daß man Erkenntnisse gewinnt, derart, daß das Leben im Haus sozial experimentierend nachhaltige Einsichten für das Weiterleben gewinnt. So daß das Haus ein Instrument zur Erkenntnis der unerfaßten gesellschaftlichen Wirklichkeit wird und zum Einwirken auf die menschliche Praxis fortschreitet. Es soll ja nicht illustrieren, es soll Wissen produzieren, um einzuwirken und fortzuwirken. Es müssen Modelle des Zusammenlebens der Menschen entwickelt werden der Art, daß die Bewohner in die Lage kommen, ihre soziale Umwelt, ihre "ökologische" Umwelt zu verstehen und zu beherrschen im Sinne nachhaltiger Veränderungen. Die Menschen müssen mehr über sich wissen, um fähig zu werden zu verändern. Wenn sie ihre Häuser nicht in ihre Erkenntnisprozesse mit einbeziehen, begeben sie sich immer wieder in die alten "versteinerten" Verhältnisse zurück. Das Haus muß darstellende Fähigkeiten bekommen, es muß Prozesse reflektieren, den Wechsel der Dinge zum Ausdruck bringen, es muß historisch werden, nicht historisierend.

Das volle Bewußtsein der Gegenwart bedeutet bereits ihre Überwindung. Von dieser Seite her tritt das Haus aus der Gegenwart heraus, zeigend, daß die Gegenwart ihm bereits Vergangenheit ist: Es steht im Horizont der Praxis der Zukunft. Das Haus wird zur Zukunftswerkstätte. Das Haus muß immer andere Möglichkeiten zeigen und deutlich machen, daß jede Möglichkeit jeweils nur eine Variante aus der Vielfalt des Möglichen realisiert. Im Haus erschallen Echos verschiedener Möglichkeiten, unter deren Einfluß sich wechselseitig durchdringende Klangfarben und -modulationen ergeben. Gezeitigt werden soll die Veränderbarkeit des Zusammenlebens der Menschen und damit die Veränderbarkeit des Menschen selbst. Auf die Widersprüche, die Konflikte, die leicht verdrängten, muß dabei das Augenmerk liegen, erst sie treiben die Verhältnisse voran: Lebendig ist nur, was widerspruchsvoll ist.

Das Haus muß im vollen Bewußtsein seiner Historität saniert werden. Nichts besseres als seine Bewohnerinnen zu fragen, seine Erbauer, Planer, Architekten, seine Nachbarn, die Umgebung, die gesamte Stadt miteinbeziehend, fragen nach nach seinem Vorkommen und seinen Rollen.

Wir hatten versucht, durch die Erzählperspektive das Haus als bedeutenden Akteur in unsere Überlegungen mit einzubeziehen; wir hätten seinen Erbauer benennen können, seine Bewohnerinnen aufzählen müssen, um auch ihren weiteren Weg zu benennen, der sie ins Haus zurückgeführt hätte, das daraus eine andere Geschichte gewonnen hätte, mit der wir jetzt auch die Sanierung als eine Wiederaneignung des Verdrängten deutlicher betonen könnten. Als neue Mieter in den neunziger Jahren das Haus bezogen, fanden sie noch eine Kammer eines offiziellen Organs, mit einer Schreibmaschine aus den dreißiger Jahren, die womöglich seinem Vorgänger in anderem Habit bereitgestellt worden war, um wie er seine Berichte zu verfassen. Auch der Schreibtisch mit Rollschrank war am Platz geblieben; er ziert jetzt, seiner Rolle entkleidet, den Brain-room eines Internet-Providers. Heute würden wir womöglich fragen, wie ein solcher Raum im Haus genutzt werden sollte. Das Haus jedenfalls hat Anspruch auf seine Nutzungsmöglichkeiten, und die ergeben sich zuerst aus den vergangenen Nutzungen, die zur Vielfalt so hinzugefügt werden müssen, daß sich aus der Vielansichtigkeit eines Gebäudes die Mobilität der Phantasietätigkeit seiner aktuellen Bewohnerinnen ergebe.

 

Historisierung der Gegenwart und Aktualisierung der Vergangenheit.

Mittels der Historisierung wird das Haus zum Instrument der Theorie, aus der durch Bewußtseinsbildung notwendig die Praxis folgt, in der Bewohnerin, die das geistige Zentrum des Hauses darstellt. Daraus folgt notwendig die Fortsetzung der Praxis außerhalb des Hauses, im Wohnviertel, im Stadtquartier, in Berufs- und Ausbildungszusammenhängen, in kulturellen und politischen Aktivitäten, in der Stadt.

Seien wir doch gewiß, daß die Auseinandersetzung um das Haus Anklamer Straße 54 gerade durch die Historisierung über den speziellen sich zu einem generellen Vorgang entwickelt hat. Schon hat das Bewußtsein der Bewohnerinnen und Eigentümer die Grenzen des Hauses überwunden. Die häufigsten Gespräche finden vor dem Haus, in der Straße statt, als ob sich die einen dem Einfluß des Hauses entziehen müssen und die anderen im Stadtquartier ihre natürliche Umgebung gefunden hätten, um gemeinsam sich bereits einzuüben in wechselnde Ansichten, denen die körperliche Angst vor Vereinnahmung die dialektische Qualität verleiht, letztlich angreifbar und verletzlicher eine produktivere, phantasievollere Haltung einnehmen zu können. Hier wird ein Scheingegensatz zwischen zwei diametral verankerten Nutzenkalkulationen bereits durch die Bezugnahme auf eine wesentlichere Ordnung aufgelöst. Ihre Überwindung ist ein historischer Prozeß, aus dem dieses Wohneigentum zugleich gefahrloser und einträglicher hervorgehen wird. Historisches Bewußtsein und der Wandel der Perspektive zerstören den falschen Schein einer Kontinuität des Ewig-Gleichen, aus dem verfestigten Bild entsteht ein lebendiger Vorgang, der die gegebenen Eigentumsverhältnisse auflöst.

 

Sanierung des Hauses als Erkenntnisvorgang

Die Bewegung aus dem Haus und zurück könnte konstitutiv für Sanierung werden, wenn es zu einer ständigen Bewegung zwischen Wesentlichem und Akzidentellem, zwischen dem abweichenden Individuellen und dem sich versteinernden Massenhaften kommen würde: Eine Bewohnerin tritt vor das Haus, stellt einen Stuhl auf, tritt herauf und demonstriert den Nachbarn auf der Straße, wie das letzte Gespräch verlief. Um sich verständlicher zu machen, stellt sie die Individuen als Handelnde dar, sie bemüht sich, mit eindeutigen Gesten die Gesetzlichkeiten der Abläufe zu verdeutlichen. Die besonderen Umstände stehen im Blick, gewinnen aber erst durch eine Darstellung ihr eigentliches Gewicht und können anschließend wieder zurückfließen aus verdeutlichter Erfahrung. Dazu könnte ein Nachbar, welcher der Darstellung beiwohnte, im Haus Bericht erstatten. Die Darstellung, ihre Rezeption und erneute Wiederaneignung dienen der Aufklärung über die Struktur der Konflikte, sie werden gesellschaftlich vermittelt, um auch der gesellschaftlichen Aufklärung zugeführt zu werden. Werden die Widersprüche aus ihrer individuellen Befangenheit und Beschränkung gleichsam dialektisch gespiegelt, verlieren auch die Veränderungen ihre Scheinhaftigkeit, sie ergreifen die wirkliche Wirklichkeit. Das Haus ist Gestaltung der Wirklichkeit, welche die Wirklichkeit gestalten soll. Das Haus steht gleichsam zwischen zwei Wirklichkeiten, einer gegenwärtigen und einer zukünftigen, die es projiziert. Das Haus ist keine Wirklichkeit eigener Art, es ist ganz und gar verbunden mit der tatsächlichen Wirklichkeit, das Haus setzt dem gegenüber allerdings Erkundungs- und Experimentierflächen, auf denen sich noch nicht Seiendes erproben läßt und Wirklichkeitsgewicht gewinnen kann. Das Haus ist in diesem Zusammenhang als unabgeschlossener zu bezeichnen und appelliert eindrücklich, um seine Vollendung erst in der Wirklichkeit zu bekommen. Die Realisierung der Haussanierung entspricht diesem Prozeß, für ihn gibt es keinen Zweck im Wiederbezug durch die Mieterinnen, es bleibt Mittel für eine Sanierung der Wirklichkeit in ihrer Totalität. Das Haus ist realistisch, es bildet die Wirklichkeit ab, muß aber vom realistischen Bewußtsein erfüllt sein, das Stellung nimmt, denn nur auf sie hin ist es entworfen. Eine Sanierung, die solch einem Entwurf sich entzieht, ist keine Sanierung, sie verbleibt im kapitalistischen Verwertungsrationalismus. Selbstverständlich beinhaltet eine solche Sanierung Engagement. Nur aus der Orientierung aller Beteiligter an einem engagierten Einwirken auf die Wirklichkeit entsteht ein legitimer Zweck, eine ethische Legitimation der Sanierung. Eine unparteiische Sanierung ist nicht denkbar. Fehlendes Engagement begünstigt die bestehenden Verhältnisse. Im Haus muß die Realität wiedererkannt werden und zugleich durchschaut werden. Die erkannte Realität soll verändert werden. Das ist seine sittliche Notwendigkeit, die über die Behausung hinaus geht, es steht im Prozeß der Wirklichkeit als Element des dialektischen Prozesses, der die Wirklichkeit bildet. Der Bewußtseinsvorgang, der es antreibt, ist rational orientiert und von dem Anspruch auf objektive Wahrheit bestimmt. Er ist notwendig engagiert.